Der Jahresbericht der FMH-Gutachterstelle erscheint wie im vergangenen Jahr in neuer Form. In der Schweizerischen Ärztezeitung werden nur noch die Zahlen zu den in den vergangenen Jahren erstellten Gutachten publiziert. Die statistische Analyse und die Informationen zu den verschiedenen Tätigkeiten der Gutachterstelle werden an dieser Stelle veröffentlicht.
Die Anzahl neu eingereichter Anträge von Patienten und Patientinnen blieb wie in den Vorjahren hoch. Jeder Antrag auf Begutachtung geschieht in einem schwierigen persönlichen Kontext für die betroffene Person und stellt auch die betroffene Ärztin bzw. den betroffenen Arzt vor Herausforderungen. Jedes dieser Verfahren erfordert daher nicht nur Kenntnis des Reglements sondern auch Fingerspitzengefühl und Flexibilität. Daraus ergibt sich eine sehr interessante, erkenntnisreiche Tätigkeit mit vielen zwischenmenschlichen Begegnungen.
Im 2022 konnten mehrere FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilien erfolgreich durchgeführt werden. Dabei handelt es sich um ein mündliches Verfahren, bei dem sich die Parteien am runden Tisch treffen und die Frage der Sorgfaltspflichtverletzung vom medizinischen Experten erörtert wird. Solche mündlichen Erörterungen sind für alle Beteiligten sehr emotional und erfordern besonders viel Respekt und Toleranz.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Die aussergerichtliche Gutachterstelle der FMH organisiert medizinische Gutachten um zu ermitteln, ob in einem konkreten Fall ein Arzt oder eine Ärztin eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat und/oder ein Organisationsverschulden der betroffenen Einrichtung vorliegt. Anträge auf Begutachtung können ausschliesslich von Patientinnen und Patienten eingereicht werden; die medizinische Behandlung muss zudem in der Schweiz stattgefunden haben. Das Verfahren ist durch das Reglement festgelegt.
Die Gutachten werden grundsätzlich schriftlich erstellt. Die Parteien können aber auch ein FMH-Gemeinschaftliches Gutachterkonsilium beantragen. Dabei handelt es sich um ein mündliches Verfahren, das im Rahmen eines bis zum 31. Dezember 2023 laufenden Pilotprojekts eingeführt wurde.
Die Gutachterstelle arbeitet eng mit den betreffenden medizinischen Fachgesellschaften zusammen, sodass unabhängige und kompetente Gutachter gefunden werden können. Nach Kenntnisnahme des gesamten Dossiers nominieren die Fachgesellschaften die medizinischen Gutachter oder bestätigen diese.
Für ein schriftliches oder mündliches Gutachten muss der Patient eine Bearbeitungsgebühr von 1000 Schweizer Franken zuzüglich MwSt. entrichten. Das Honorar des Gutachters wird von den Haftpflichtversicherern (die Mitglied des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV sind) der Ärzte oder Spitäler übernommen. So bleiben die Kosten des Verfahrens für den Patienten oder die Patientin überschaubar.
Die Gutachterstelle ist ein nützliches und effizientes Instrument, mit dem die Parteien ihre Rechtsstreitigkeit aussergerichtlich beilegen können.
1Umfasst schriftliche Gutachten und FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilien.
2Der Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung deckt Diagnose- bzw. Behandlungsfehler, Verletzungen der Aufklärungspflicht sowie Organisationsverschulden ab.
3Die Kausalität gilt als bejaht, wenn der Gutachter oder die Gutachterin sie als sicher, sehr wahrscheinlich oder überwiegend wahrscheinlich eingestuft hat.
4Im Falle multidisziplinärer Gutachten wird jede festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung dem entsprechenden Fachgebiet zugeordnet. Die Zahl der erstellten Gutachten und die Zahl der in den verschiedenen Fachgebieten festgestellten Sorgfaltspflichtverletzungen können deshalb voneinander abweichen.
Keine Repräsentativität auf Schweizer Ebene
Angesichts der geringen Anzahl an verfügbaren Daten und des Mangels an Vergleichswerten können die Statistiken der FMH-Gutachterstelle nicht als Grundlage für die Ermittlung der Anzahl der jährlichen Sorgfaltspflichtverletzungen in der Schweiz oder der am stärksten betroffenen Disziplinen herangezogen werden. Die genannten Zahlen spiegeln lediglich die Tätigkeit der FMH-Gutachterstelle im Jahr 2022 wider. Diese hat kein Monopol für das Erstellen von Gutachten und die Patienten geben regelmässig private Gutachten in Auftrag. Ausserdem bearbeiten die Spitäler jedes Jahr selbst mehrere bei ihnen anhängig gemachte Vorwürfe von Sorgfaltspflichtverletzungen oder Organisationsverschulden.
Nur teilweise Spiegelung der geleisteten Arbeit der Gutachterstelle
Die Statistik gibt nur die Ergebnisse der im Jahr 2022 erstellten 46 Gutachten wieder, nicht aber den hohen Vorbereitungsaufwand, den unsere Gutachterstelle im Vorfeld betreibt. Die Gutachterstelle analysiert die neuen Anträge – im Jahr 2022 waren es 92 – im Hinblick auf ihre Konformität mit dem Reglement, fordert bei Bedarf die fehlenden Belege und Unterlagen an und berät die Patientinnen und Patienten umfassend in deren Fragestellungen. Von diesen 92 Anträgen wurden 35 an die Delegierten der betreffenden Fachgesellschaft verschickt. Die restlichen Anträge befinden sich in Bearbeitung.
Der Arzt schuldet eine sorgfältige Behandlung, unabhängig ob dieser privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich tätig wird. Die Sorgfaltspflicht umfasst die gesamte Behandlung.
Der ärztliche Soll-Sorgfaltsmassstab orientiert sich am objektiv anerkannten Stand der ärztlichen Wissenschaft im Zeitpunkt der Behandlung. Das Bundesgericht hat erwogen, dass in der Medizin die wissenschaftlichen Ergebnisse voneinander abweichen und die Meinungen verschieden sein können. Der objektiv betrachtete Stand der Wissenschaft berechtigt folglich den Arzt, sich zwischen verschiedenen adäquaten Therapien oder anderen möglichen Massnahmen zu entscheiden. Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht mehr als vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht.
Ein Spital verletzt seine Sorgfaltspflicht und begeht ein Organisationsverschulden, wenn dieses die interne Organisation nicht so umsetzt, dass die Patienten einem möglichst geringen Risiko ausgesetzt werden.
Diese Aspekte hat der Gutachter als Kernfragen bei der Begutachtung zu beurteilen.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 2. Februar 2022.
Die Gutachterstelle organisiert kein Gutachten, wenn allein die Frage strittig ist, ob die Aufklärung des Patienten oder der Patientin ausreichend war. Dieser Aspekt wird jedoch regelmässig parallel zum Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung oder eines Organisationsverschuldens durch die Gutachter und Gutachterinnen untersucht.
Eine fehlende bzw. unzureichende Aufklärung führt zur Haftung des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin, selbst dann, wenn der Patient oder die Patientin mit der gebührenden Sorgfalt behandelt wurde. Die Behandlung ist in diesem Fall sogar rechtswidrig, da der Patient oder die Patientin nicht rechtsgültig einwilligen konnte. Der Nachweis der ausreichenden Patientenaufklärung ist Aufgabe des Arztes bzw. der Ärztin.
Die Gutachter müssen einerseits bestimmen, in welchem Masse der Patient oder die Patientin aufgeklärt werden sollte, und andererseits, wie diese Aufklärung zu dokumentieren ist.
Im 2022 wurden in drei Gutachten eine Verletzung der Aufklärungspflicht festgestellt, ohne dass auch ein Diagnose- und/oder Behandlungsfehler bzw. ein Organisationsverschulden vorgelegen hat. Eine Kausalität zwischen der Behandlung und dem Gesundheitsschaden wurde in keinem der Fälle anerkannt.
Weitere Informationen zur ärztlichen Aufklärungspflicht finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 2. Februar 2022.
Wird eine Sorgfaltspflichtverletzung bzw. ein Organisationsverschulden festgestellt, muss der Gutachter abklären, ob diese Verletzung bzw. dieser Fehler die Ursache des vom Patienten geltend gemachten Gesundheitsschadens ist. Auch diese Frage ist eine Kernfrage des Gutachtens.
Liegt ein Aufklärungsfehler vor, hat der Gutachter zu beurteilen, ob die Gesamtbehandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat, auch wenn diese lege artis durchgeführt wurde.
Bei der Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs muss der Gutachter feststellen, wie sich der Gesundheitszustand des Patienten ohne die festgestellte Verletzung bzw. ohne die Behandlung darstellen würde. Der Gutachter äussert sich zur Kausalität nur in medizinischer, nicht aber in rechtlicher Hinsicht.
Zudem hat der Gutachter zu beurteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Fehler bzw. die Behandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat. Ein Schadenersatzanspruch ist dann gegeben, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann. Der Gutachter hat auch darzulegen, ob es noch Kofaktoren gibt, d. h. andere Ursachen, die zum Schaden geführt haben, und ob diese Ursachen auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sind.
Im Jahr 2022 wurden 21 Sorgfaltspflichtverletzungen bzw. Organisationsverschulden bejaht. Davon haben die Gutachter die Kausalität in 13 Fällen anerkannt.
Durch eine hochwertige Qualität der FMH-Gutachten geniessen diese eine hohe Akzeptanz. Diese Qualität wird durch die folgenden Mechanismen sichergestellt:
Die Arbeit und Unterstützung des wissenschaftlichen Beirates sowie der Delegierten der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften ist für die Gutachterstelle von grosser Wichtigkeit, nur mit deren Mitwirkung können hochwertige medizinische Gutachten organisiert und deren Qualität gewährleistet werden.
Im Rahmen eines bis Ende 2023 dauernden Pilotprojekts eröffnet das Reglement die Möglichkeit eines FMH-Gemeinschaftlichen Gutachterkonsiliums (FMH-GGK). Dabei handelt es sich um ein mündliches Verfahren, bei dem der Gutachter den Parteien am runden Tisch medizinische Fragen erläutert. Auch hier geht es um die Klärung der ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung bzw. eines Organisationsverschuldens, des Gesundheitsschadens und der Kausalität. Der Fall muss für eine solche Gutachtenart geeignet sein, ebenso wie sämtliche Parteien mit einem solchen Vorgehen einverstanden sein müssen.
Im 2022 konnten insgesamt vier FMH-GGK erfolgreich durchgeführt werden.
Es werden den an FMH-GGK teilnehmenden Parteien Feedback-Formulare während der Pilotphase versendet, damit die Gutachterstelle Änderungs- und Verbesserungsvorschläge entgegen nehmen kann.
Die Rechtsanwältinnen der Gutachterstelle referieren laufend an verschiedenen Veranstaltungen, welche die Ausbildung medizinischer Gutachter oder das Haftpflichtrecht allgemein betreffen.
Im 2022 referierte Dr. iur. Caroline Hartmann am Fortbildungstag der swiss orthopaedics zum Thema der Rechte der Patienten bei Implantatversagen und an der Arzthaftungstagung HAVE zum Verfahren der FMH-Begutachtung. Ebenso an der interdisziplinären Plattform für Versicherungsmedizin SIM, welche per Videokonferenz stattgefunden hat.
Die FMH und SIM haben ein Ausbildungsangebot für medizinische Gutachter zum Thema Arzthaftung lanciert, um die in diesem Gebiet tätigen Ärzte zu unterstützen und die Qualität der Gutachten zu erhöhen. Dabei handelt es sich um ein Einzelmodul, bei dem Juristen und Ärzte spezifische Themen der Arzthaftung darlegen und mit den Teilnehmenden besprechen. Die unterschiedlichen Facetten der ärztlichen Sorgfaltspflicht, der ärztlichen Aufklärungspflicht und der Dokumentationspflicht werden darin ebenso thematisiert wie die Erstellung von schriftlichen Gutachten, das FMH-GGK und die Wichtigkeit der Kommunikation im Fall eines vermuteten Behandlungsfehlers.
Die Ausbildung findet alle zwei Jahre statt. Aufgrund der positiven Rückmeldungen und des grossen Interesses daran wird sie im 2023 wieder in beiden Sprachregionen angeboten.
Weitere Informationen zu dieser Ausbildung finden Sie hier.
Die Gutachterstelle deckt sowohl die deutsche, die französische und die italienische Schweiz ab. Das Team besteht aus den zwei Co-Leiterinnen und Rechtsanwältinnen Valérie Rothhardt und Caroline Hartmann, sowie den zwei Fachspezialistinnen Rebekka Iseli und Nathalie Andrey Mury, womit die deutsche und französische Schweiz vertreten sind. Mit lic. iur. Isabella Meschiari ist auch die italienische Schweiz vertreten.
Die Tätigkeit der Gutachterstelle wird durch den wissenschaftlichen Beirat im Auftrag des FMH-Zentralvorstands überwacht. Er hat keine Entscheidungskompetenz, sondern entlastet den Zentralvorstand von seiner Aufsichtspflicht, prüft zur Qualitätssicherung stichprobenweise Gutachten und Nichteintretensentscheide und unterstützt die Gutachterstelle bei der Lösung fallbezogener Fragen. Der wissenschaftliche Beirat hat im 2022 acht Gutachten und sieben Nichteintretensentscheide geprüft.
Der wissenschaftliche Beirat setzt sich wie folgt zusammen:
Zahlreiche Akteure tragen zum guten Funktionieren der aussergerichtlichen FMH-Gutachterstelle bei. Wir danken unserem wissenschaftlichen Beirat sowie den medizinischen Fachgesellschaften und ihren Delegierten für die wertvolle Unterstützung, ebenso den Gutachtern für ihre Verfügbarkeit und ihre grossartige Arbeit. Wir danken ausserdem den behandelnden Ärzten sowie den Spitalleitungen und Versicherungen, die bei den Begutachtungen mitgewirkt haben.