Die Tätigkeit der FMH-Gutachterstelle findet in einem sensiblen menschlichen Umfeld statt, da die involvierten Personen einschneidende Erfahrungen gemacht haben. Die Patientinnen und Patienten sind in ihrer Gesundheit beeinträchtigt und die betroffenen Ärztinnen und Ärzte mit dem Vorwurf der Sorgfaltspflichtverletzung konfrontiert.
Die administrative Durchführung der gutachterlichen Verfahren ist eine zentrale Aufgabe der Gutachterstelle und erfordert daher nicht nur Kenntnis der geltenden Bestimmungen sondern auch Fingerspitzengefühl und Flexibilität. Im Jahr 2023 wurden wie in den vorausgehenden Jahren zahlreiche neue Anträge gestellt.
Gleichzeitig führt die FMH-Gutachterstelle auch mündliche Verfahren (FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilien) durch; 2023 wurden mehrere sogenannte runde Tische erfolgreich organisiert. Die FMH-Gutachterstelle hält zudem regelmässig Referate zum Thema Arzthaftung und organisiert Schulungen für Gutachterinnen und Gutachter, die auf diesem Gebiet tätig sind.
Die verschiedenen Rubriken des Jahresberichts verschaffen Ihnen einen Überblick über die vielfältigen Tätigkeiten, die die FMH-Gutachterstelle im Jahr 2023 durchgeführt hat. Die Zahlen zu den erstellten Gutachten werden auch in der Schweizerischen Ärztezeitung veröffentlicht.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Die Gutachterstelle hat zur Aufgabe, die aussergerichtliche Einigung in Arzthaftungsfällen zu fördern. Sie organisiert medizinische Gutachten um zu ermitteln, ob in einem konkreten Fall ein Arzt oder eine Ärztin eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat und/oder ein Organisationsverschulden der betroffenen Einrichtung vorliegt. Anträge auf Begutachtung können ausschliesslich von Patientinnen und Patienten eingereicht werden; die medizinische Behandlung muss zudem in der Schweiz stattgefunden haben. Das Verfahren ist durch das Reglement festgelegt.
Die Gutachten werden grundsätzlich schriftlich erstellt. Die Parteien können aber auch eine mündliche Begutachtung (FMH-Gemeinschaftliches Gutachterkonsilium) beantragen. Weitere Informationen dazu finden Sie hier .
Die Gutachterstelle arbeitet eng mit den betreffenden medizinischen Fachgesellschaften zusammen, sodass unbefangene und kompetente Gutachterinnen und Gutachter gefunden werden können. Nach Kenntnisnahme des gesamten Dossiers nominieren die Fachgesellschaften die medizinischen Gutachterinnen und Gutachter oder bestätigen diese.
Für ein schriftliches oder mündliches Begutachtungsverfahren muss die Patientin und der Patient eine Bearbeitungsgebühr von Fr. 1000.– zuzüglich MwSt. entrichten. Das Honorar der Gutachterin und des Gutachters wird von den Haftpflichtversicherern (welche Mitglied des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV sind) der Ärztinnen und Ärzte oder Spitäler übernommen. So bleiben die Kosten des Verfahrens für den Patienten oder die Patientin überschaubar.
1Umfasst schriftliche Gutachten und FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilien.
2Der Begriff der Sorgfaltspflichtverletzung deckt Diagnose- bzw. Behandlungsfehler, Verletzungen der Aufklärungspflicht sowie Organisationsverschulden ab.
3Die Kausalität gilt als bejaht, wenn der Gutachter oder die Gutachterin sie als sicher, sehr wahrscheinlich oder überwiegend wahrscheinlich eingestuft hat.
4Im Falle multidisziplinärer Gutachten wird jede festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung dem entsprechenden Fachgebiet zugeordnet. Die Zahl der erstellten Gutachten und die Zahl der in den verschiedenen Fachgebieten festgestellten Sorgfaltspflichtverletzungen können deshalb voneinander abweichen.
Zusatzinformationen:
Vergleich zu den Vorjahren:
Keine Repräsentativität auf Schweizer Ebene
Angesichts der geringen Anzahl an verfügbaren Daten und des Mangels an Vergleichswerten können die Statistiken der FMH-Gutachterstelle nicht als Grundlage für die Ermittlung der Anzahl der jährlichen Sorgfaltspflichtverletzungen in der Schweiz oder der am stärksten betroffenen Disziplinen herangezogen werden. Die genannten Zahlen spiegeln lediglich die Tätigkeit der FMH-Gutachterstelle im Jahr 2023 wider. Diese hat kein Monopol für das Erstellen von Gutachten und die Patientinnen und Patienten geben regelmässig private Gutachten in Auftrag. Ausserdem bearbeiten die Spitäler regelmässig selbst bei ihnen anhängig gemachte Vorwürfe von Sorgfaltspflichtverletzungen oder Organisationsverschulden.
Nur teilweise Spiegelung der geleisteten Arbeit der Gutachterstelle
Die Statistik gibt nur die Ergebnisse der im Jahr 2023 erstellten 50 Gutachten wieder, nicht aber den hohen Vorbereitungsaufwand, den unsere Gutachterstelle im Vorfeld betreibt. Die Gutachterstelle analysiert die neuen Anträge – im Jahr 2023 waren es 78 – im Hinblick auf ihre Konformität mit dem Reglement, fordert bei Bedarf die fehlenden Belege und Unterlagen an und berät die Patientinnen und Patienten umfassend in deren Fragestellungen. Von diesen 78 Anträgen wurden 23 an die Delegierten der betreffenden Fachgesellschaft verschickt. Die restlichen Anträge befinden sich in Bearbeitung.
Die Ärztin und der Arzt schuldet eine sorgfältige Behandlung, unabhängig ob dieser privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich tätig wird. Die Sorgfaltspflicht umfasst die gesamte Behandlung.
Der ärztliche Soll-Sorgfaltsmassstab orientiert sich am objektiv anerkannten Stand der ärztlichen Wissenschaft im Zeitpunkt der Behandlung. Das Bundesgericht hat erwogen, dass in der Medizin die wissenschaftlichen Ergebnisse voneinander abweichen und die Meinungen verschieden sein können. Der objektiv betrachtete Stand der Wissenschaft berechtigt folglich die Ärztin und den Arzt, sich zwischen verschiedenen adäquaten Therapien oder anderen möglichen Massnahmen zu entscheiden. Eine Pflichtverletzung ist daher nur dort gegeben, wo eine Diagnose, eine Therapie oder ein sonstiges ärztliches Vorgehen nach dem allgemeinen fachlichen Wissensstand nicht als vertretbar erscheint und damit ausserhalb der objektivierten ärztlichen Kunst steht.
Ein Spital verletzt seine Sorgfaltspflicht und begeht ein Organisationsverschulden, wenn dieses die interne Organisation nicht so umsetzt, dass die Patientinnen und Patienten einem möglichst geringen Risiko ausgesetzt werden.
Diese Aspekte hat die Gutachterin und der Gutachter als Kernfragen bei der Begutachtung zu beurteilen.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 1. Februar 2022.
Die Gutachterstelle organisiert kein Gutachten, wenn allein die Frage der Aufklärung strittig ist. Dieser Aspekt wird jedoch regelmässig parallel zum Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung oder eines Organisationsverschuldens durch die Gutachter und Gutachterinnen untersucht.
Eine fehlende beziehungsweise unzureichende Aufklärung führt zur Haftung des behandelnden Arztes oder der behandelnden Ärztin, selbst dann, wenn der Patient oder die Patientin mit der gebührenden Sorgfalt behandelt wurde. Die Behandlung ist in diesem Fall sogar rechtswidrig, da der Patient oder die Patientin nicht rechtsgültig einwilligen konnte. Der Nachweis der ausreichenden Patientenaufklärung ist Aufgabe des Arztes beziehungsweise der Ärztin.
Die Gutachterinnen und Gutachter müssen einerseits bestimmen, in welchem Masse der Patient oder die Patientin aufgeklärt werden sollte, und andererseits, wie diese Aufklärung zu dokumentieren ist.
Im 2023 wurde in zwei Gutachten eine Verletzung der Aufklärungspflicht festgestellt, ohne dass auch ein Diagnose- und/oder Behandlungsfehler beziehungsweise ein Organisationsverschulden vorgelegen hat. Eine Kausalität zwischen der Behandlung und dem Gesundheitsschaden wurde in diesen Fällen nicht anerkannt.
Weitere Informationen zur ärztlichen Aufklärungspflicht finden Sie im Artikel «Kernaussagen zum Arzthaftungsrecht» von Dr. iur. Iris Herzog-Zwitter vom 1. Februar 2022.
Wird eine Sorgfaltspflichtverletzung bzw. ein Organisationsverschulden festgestellt, muss die Gutachterin und der Gutachter abklären, ob diese Verletzung bzw. dieser Fehler die Ursache des von der Patientin oder vom Patienten geltend gemachten Gesundheitsschadens ist. Auch diese Frage ist eine Kernfrage des Gutachtens.
Liegt ein Aufklärungsfehler vor, hat die Gutachterin und der Gutachter zu beurteilen, ob die Gesamtbehandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat, auch wenn diese lege artis durchgeführt wurde.
Bei der Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs muss die Gutachterin und der Gutachter feststellen, wie sich der Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten ohne die festgestellte Verletzung bzw. ohne die Behandlung darstellen würde. Die Gutachterin und der Gutachter äussert sich zur Kausalität nur in medizinischer, nicht aber in rechtlicher Hinsicht.
Zudem hat die Gutachterin und der Gutachter zu beurteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Verletzung bzw. die Behandlung zum Gesundheitsschaden geführt hat. Ein Schadenersatzanspruch ist dann gegeben, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann. In diesem Rahmen hat die Gutachterin und der Gutachter auch darzulegen, ob es noch Kofaktoren gibt, d.h. andere Ursachen, die zum Schaden geführt haben, und ob diese Ursachen auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sind.
Im Jahr 2023 wurden 21 Sorgfaltspflichtverletzungen bzw. Organisationsverschulden bejaht. Davon haben die Gutachterinnen und Gutachter die Kausalität in 15 Fällen anerkannt.
Durch eine hochwertige Qualität der FMH-Gutachten geniessen diese eine hohe Akzeptanz. Diese Qualität wird durch die folgenden Mechanismen sichergestellt:
Die Arbeit und Unterstützung des wissenschaftlichen Beirates sowie der Delegierten der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften ist für die Gutachterstelle von grosser Wichtigkeit, nur mit deren Mitwirkung können hochwertige medizinische Gutachten organisiert und deren Qualität gewährleistet werden.
Das FMH-Gemeinschaftliche Gutachterkonsilium (FMH-GGK) ist ein mündliches Verfahren, bei dem die Gutachterin oder der Gutachter den Parteien am runden Tisch den medizinischen Sachverhalt erläutert. Wie beim schriftlichen Verfahren geht es auch hier um die Klärung der ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung bzw. eines Organisationsverschuldens, des Gesundheitsschadens und der Kausalität. Der Fall muss für eine solche mündliche Besprechung geeignet sein, ebenso wie sämtliche Parteien und die Gutachterin oder der Gutachter mit einem solchen Verfahren einverstanden sein müssen.
Das FMH-GGK wurde von 2019 bis Ende 2023 als Pilotprojekt durchgeführt. Es konnten bis Ende 2023 insgesamt sechs FMH-GGK erfolgreich durchgeführt werden.
Das FMH-GGK wurde per 1. Januar 2024 definitiv in das FMH-Begutachtungsverfahren eingeführt.
Die Durchführung eines FMH-GGK erfordert von allen Parteien Respekt, Empathie, Wohlwollen und die Bereitschaft, sich auf eine aussergerichtliche Einigung einzulassen. Die FMH-Gutachterstelle legt grossen Wert darauf, dass sich Ärztinnen und Ärzte mit Patientinnen und Patienten mittels einem FMH-GGK aussergerichtliche einigen können, damit langwierige und emotionale Prozesse vermieden werden.
Weitere Informationen finden Sie im SÄZ Artikel «FMH-Gemeinschaftliches Gutachterkonsilium» von Valérie Rothhardt und Caroline Hartmann vom 8. Mai 2024.
Die Rechtsanwältinnen der Gutachterstelle referieren laufend an verschiedenen Veranstaltungen, welche die Ausbildung medizinischer Gutachterinnen und Gutachter oder das Haftpflichtrecht allgemein betreffen.
Im 2023 referierte Dr. iur. Caroline Hartmann an der interdisziplinären Plattform für Versicherungsmedizin (SIM), welche in Luzern per Videokonferenz stattgefunden hat. Ebenso referierte Valérie Rothhardt bei der SIM in Lausanne, im Rahmen des « Cours de formation en expertises médicales ».
In der Romandie referierte Valérie Rothhardt zusätzlich in Neuchâtel beim Institut de droit de la santé, im Rahmen des CAS « Droit des patients et des patients et santé publique ».
Die FMH und SIM haben ein Ausbildungsangebot für medizinische Gutachterinnen und Gutachter zum Thema Arzthaftung lanciert, um die in diesem Gebiet tätigen Ärztinnen und Ärzte zu unterstützen und die Qualität der Gutachten zu erhöhen. Dabei handelt es sich um ein Einzelmodul, bei dem Juristinnen und Juristen, sowie Ärztinnen und Ärzte spezifische Themen der Arzthaftung darlegen und mit den Teilnehmenden besprechen. Die unterschiedlichen Facetten der ärztlichen Sorgfaltspflicht, der ärztlichen Aufklärungspflicht und der Dokumentationspflicht werden darin ebenso thematisiert wie die Erstellung von schriftlichen Gutachten, das FMH-GGK und die Wichtigkeit der Kommunikation im Fall eines vermuteten Behandlungsfehlers.
Die Ausbildung fand im 2023 in beiden Sprachregionen statt. Im 2024 wird sie für die Deutschschweiz am 28. November 2024 wiederum in der Klinik Hirslanden in Zürich stattfinden. In der Romandie wird die nächste Durchführung im 2025 stattfinden.
Weitere Informationen zu dieser Ausbildung finden Sie hier.
Die Gutachterstelle deckt sowohl die deutsche, die französische und die italienische Schweiz ab. Das Team besteht aus zwei Co-Leiterinnen und Rechtsanwältinnen, einer Juristin, vier Fachspezialistinnen sowie einer Sekretärin.
Die Tätigkeit der Gutachterstelle wird durch den wissenschaftlichen Beirat im Auftrag des FMH-Zentralvorstands überwacht. Er hat keine Entscheidungskompetenz, sondern entlastet den Zentralvorstand von seiner Aufsichtspflicht, prüft zur Qualitätssicherung stichprobenweise Gutachten und Nichteintretensentscheide und unterstützt die Gutachterstelle bei der Lösung fallbezogener Fragen. Der wissenschaftliche Beirat hat im 2023 acht Gutachten und sechs Nichteintretensentscheide geprüft.
Der wissenschaftliche Beirat setzt sich wie folgt zusammen:
Zahlreiche Akteure tragen zum guten Funktionieren der aussergerichtlichen FMH-Gutachterstelle bei. Wir danken unserem wissenschaftlichen Beirat sowie den medizinischen Fachgesellschaften und ihren Delegierten für die wertvolle Unterstützung, ebenso den Gutachterinnen und Gutachtern für ihre Verfügbarkeit und ihre grossartige Arbeit. Wir danken ausserdem den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den Spitalleitungen und Versicherungen, die bei den Begutachtungen mitgewirkt haben.